Japan Reisebericht:
Von japanischer Alltagskultur in die heiße Quelle

Sehnsucht nach Ruhe

Ostasiatischer Großstadtkoller. Getöse aus Pachinko-Hallen sobald sich die elektrischen Glastüren zu den Glücksspielpalästen öffnen. Polizeiautos sonntags im Wohngebiet, aus deren Megaphons Energiespartipps verlesen werden. Auf dem täglichen Weg zum Bahnhof morgens ein Baum, aus dem scheppernd Schnulzen tönen, die Lautsprecher in den Ästen erkenne ich beim zweiten Hinsehen. Nach acht Metern der nächste Baum, die nächste Beschallung, diesmal mit einer Werbebotschaft, deren Sinn ich nur erahnen kann.

Dann eingepfercht in zwei von Tokyos Rush-hour-Zügen. An mich gelehnt dösen drei junge Unternehmensangestellte im Minutenschlaf. Meine Nase juckt. Die Hand zu heben und mich zu kratzen ist hier ein unrealistisches Unterfangen. Für eine solche Bewegungsfreiheit müssten etwa 20 Personen zunächst das Zugabteil verlassen.  Endlich an der Zielhaltestelle. Ein Willkommens-Chor im Coffee-Shop: „Guten Morgen liebe Kundin, wir sind geehrt, dass Sie unser Gast sind!“ Von einer höflichen Barista bekomme ich einen vollen Kaffeebecher und einen Sojamilch-Muffin, umsichtig versiegelt und doppelt verpackt, und nehme beides in einer Tüte mit zur Universität.

Nach drei Stunden Japanischkurs sitze ich zur Mittagspause eingereiht zwischen Geschäftsmännern in anthrazitfarbenen Anzügen an einer engen Bar bei einer leckeren Nudelsuppe. Die exzessiven Schlürfgeräusche der anderen Gäste irritieren mich schon lange nicht mehr. Ich liebe diese hektische, widersprüchliche Stadt bis in die Haarspitzen, doch nun muss ich raus, raus, raus. Ruhe, Ruhe, Ruhe. Raum, Weite, Natur, Entspannung sind das Ziel. Und vor allem: Ein Bad im natürlich heißen Wasser eines Onsens, einer japanischen Thermalquelle. Noch in Deutschland hatte ich verlockende Bilder einer japanischen Reisedokumentation von Steinbecken in der Natur verschneiter Winterlandschaften gesehen, aus deren Wasser dampfende Nebelschwaden aufstiegen. Neben etlichen Japanern hatten dort auch einige rotgesichtige Affen gebadet, die sich das heiße Nass auf die schneebedeckten Häupter sprenkelten. Ein Ausflug in die etwa 100 km von Tokyo entfernte Kleinstadt Hakone im gebirgigen Fuji-Hakone-Izu-Nationalpark soll meine Reisephantasien in die Realität umsetzen und meine gestresste Seele wieder ausgleichen.

Der Natur auf der Spur

Samstagmorgen an Tokyos Bahnhof Shinjuku. Wenn ich in Japan unsicher bei Entscheidungen bin, liege ich meistens richtig damit, einfach das Gegenteil von dem zu tun, was ich auf Reisen in anderen Ländern als empfehlenswert erachten würde: Am Schalter entscheide ich mich also für das Rundum-Touristen-Ticket „Hakone Free Pass“, das auch die Japaner vor mir in der Schlange gekauft haben. Das bringt mich nach Hakone und zurück, berechtigt mich zur Nutzung sämtlicher Verkehrsmittel im Nationalpark und gewährt mir ermäßigte Preise in einem Onsen und in einigen Restaurants. Für alles zusammen zahle ich etwa 5000 Yen, günstig für Japan. Eine eineinhalbstündige Fahrt mit der direkten Zugverbindung der Odakyū-Linie trennt mich noch von Naturwunderland und Seelenbalsam.

Angekommen. Von dem kleinstädtischen Bahnhof aus bringt mich ein Bus durch die sich windenden Gebirgsstraßen direkt zur Anlegestelle der Ausflugsboote. Ich erinnere mich daran gelesen zu haben, dass der meiste Spaß bei einem Ausflug in den Hakone-Nationalpark die Nutzung verschiedenster Verkehrsmittel sei. Ist das authentische Naturerfahrung à la japonaise? Oder doch eine Empfehlung für den verirrten Westler? Der Zug und der Linienbus zählen noch nicht dazu, wohl aber das Schiff, das ich zum Übersetzen des Ashi-Sees nutzen möchte, außerdem eine kleine Bergbahn auf Schienen und eine Seilbahn, entnehme ich dem Reiseführer.

An der Busendhaltestelle betrete ich einen Konbini, einen Supermarkt, der auch kleine Speisen und Getränke anbietet. Ich bin schon zu viele Wochen in Japan, um die Präsenz einer Supermarktkette in einem Nationalpark verwunderlich zu finden. Vielmehr freue ich mich über die Gelegenheit, einen Snack zu mir nehmen zu können. Im Shop kaufe ich karamellisierte Makadamianüsse und ein enormes Onigiri, eine Art mit Algen umwickeltes Riesen-Sushi, das in die Hände genommen und wie ein Hamburger gegessen wird. Die Füllungen sind unterschiedlich, mal Thunfisch, mal für mich Undefinierbares und diesmal eine sauer eingelegte lila Pflaume. Da mir manche essentielle Schriftzeichen auf den Verpackungen noch nicht geläufig sind, sind die in Japan äußert beliebten Onigiris für mich immer wieder eine Geschmacksüberraschung.

Dann stelle ich mich am Ufer des Sees, wie es sich in Japan gehört, ordentlich hinten in einer schnurgeraden Menschenschlange an, um auf das Boot zu warten. Ein uniformierter Angestellter überwacht die Ordnung und wedelt dazu mit einer Kelle, die er in seiner weiß behandschuhten Hand hält. Er erinnert mich an seinen Doppelgänger, der mich in Tokyo kurz nach meiner Ankunft beschützend an einer Wasserpfütze vorbei dirigierte, die wohl durch eine winzige Baustelle entstanden war. Nun erscheint am Horizont ein Piratenschiff. Entzückend ist mein Trip in die Natur, ein Mix aus History und Mystery! Die Korsaren, die von Deck stürmen, sind freundliche japanische Touristen mit professionellen Kameras des 21. Jahrhunderts. An Bord und los geht’s.

Vorbei an dem zinnoberroten torī, dem Holztor, das den Hakone-Schrein ankündigt, vorbei an gefärbten Herbstwäldern bis zum anderen Ufer. Die angekündigte Fahrt in der Seilbahngondel folgt und gibt den Blick Preis auf eine surreale, knöcherne Mondlandschaft, die der Vulkaninsel Japan alle Ehre macht. Gelblich-weißer Schwefeldunst steigt aus glühenden Wasserlöchern in dicken Wolken auf. Die Erde ist karg und steinig, der Aufstieg steil. Ein starker Geruch aus den Kratertiefen stößt mir entgegen und nimmt mir den Atem, dafür ist der Anblick der Landschaft unbekannt schön.

Die Spezialität der Region

Schließlich gelange ich zu einer typisch japanischen Aussichtsplattform mit Souvenirshop und ortspezifischer Themen-Hello-Kitty. Diese sitzt auf einem Podest und steckt den Kopf aus einem schwarzen Ei. Rund um mich herum essen auch alle Besucher schwarze Eier: „Onsen-Eier“, die im heißen Schwefelwasser eines Kraters gekocht wurden und ein langes Leben verheißen sollen. Über meinem Kopf fährt ein Karton auf einer Miniaturseilbahn vorbei, damit werden rohe Eier zu der Schwefelquelle gefahren und dort von einem Angestellten – sollte ich sagen: Koch? – mit einem Sieb ins brodelnde Wasser gehängt.

Die dunklen, hart gekochten Eier düsen dann über die Seilbahn zurück zu der Aussichtsplattform. Das technisch ausgeklügelte System versetzt mich in begeistertes Staunen. Die Eier scheinen bekannt und beliebt zu sein, denn es hat sich eine riesige Schlange am Verkaufsstand gebildet. Trotzdem sind der Anblick von schwarzen Eiern und der extreme Geruch nach Fäulnis, der aus den nahen Quellen aufsteigt, für meinen Appetit eine bedenkliche Kombination. Ich ziehe eine auf Holzkohle gegrillte Süßkartoffel vor, auch eine Spezialität der Region, die ich von einem Händler mit kleinem Lieferwagen erwerbe.

Abstieg. Weiter fahre ich mit einer winzigen Straßenbergbahn. Neben den Piraten hatten hier wohl auch die Schweizer ihre Finger im Spiel: Angerollt kommt ein altmodisches Rhätisches Bähnchen, manifestierte westeuropäische Alltagskultur mitten im japanischen Nationalpark! Diese bringt mich durch ein Waldstück direkt vor das angestrebte Badehaus.

Das Bad im Onsen

Wie auch in Privathäusern und in vielen Restaurants in Japan üblich, ziehe ich hinter der Eingangstür in der Lobby meine Stiefel aus. Ich verstaue sie in einem dafür vorgesehenen, abschließbaren Spind und gehe zur Kasse. Die Angestellte des Bades ist davon überzeugt, dass ich als blonde Ausländerin in das angrenzende Spaß- und Freizeitbad will. Sie scheint skeptisch, als ich das meditierende Sitzen in heißen Quellen dem lauten Tollen auf mehreren Rutschen vorziehe. Vorsichtshalber macht sie mich darauf aufmerksam, dass im Onsen textilfreie Zone herrscht. Ich zahle das durch den Gutschein ermäßigte Eintrittsgeld, umgerechnet etwa sechs Euro, und sie überlässt mich meinem Schicksal. Mit einer 50:50-Chance und einigen unscharfen Erinnerungen an meine Kanji-Unterrichtsstunden entscheide ich mich für das (richtige) Schriftzeichen, für die Damenumkleide, und bücke mich, um unter einem kleinen Vorhang einzutreten. 

Onsens sind in Japan grundsätzlich nach Geschlechtern getrennt, außer man bucht, z.B. als Paar, einen abgetrennten Privatbereich eines Bades. Die Badehalle wird stets komplett entkleidet betreten und bevor man in das heiße Becken steigt, muss der Körper gründlich gereinigt werden. Dieser Onsen ist sehr luxuriös. Zur Reinigung bietet er etwa fünf Reihen niedriger Waschtische an, vor die man sich nebeneinander auf winzige Plastikschemel hockt. Es gibt an jedem Platz eine bewegliche Duschbrause, eine Plastikschüssel zum temperierten Wassermischen und Shiseido-Seifen und -Shampoos im Überfluss. Zusätzlich hängt an jedem Platz ein kleiner Spiegel. Offenbar bin ich in ein Luxussegment geraten, das an einen Wellness-Tempel erinnert, wie ich ihn danach kein zweites Mal in Japan zufällig finden sollte. Nach dem gründlichen Einseifen werden Körper und Haare mehrfach nachgespült. Keinesfalls dürfen Seifenreste in das klare Wasser des Beckens gelangen, dies gilt als verunreinigend. Darüber hinaus sind auch viele Aktionen, die aus europäischen Freizeitbädern bekannt sind, verpönt. Folgendes sollte analog zu der japanischen Badeetikette im Onsen vermieden werden: Schwimmen (in den Becken kann man stets aufrecht stehen, da sie auf den sitzenden Gast ausgerichtet sind, zur Fortbewegung sollte man lieber durch das heiße Wasser waten), ins Wasser springen, planschen, laut reden und rufen. Wer nicht negativ auffallen will, sollte stets den Kopf über dem Wasserspiegel halten und keinesfalls – wenn auch nur kurz – untertauchen. Im Zweifelsfall empfiehlt sich immer würdevolles, stilles Sitzen.

Der Innenraum des Bades ist geräumig und mit hellem Holz vertäfelt. Trotz Hochbetrieb herrscht fast völlige Ruhe. Der Ausblick aus den Panoramafenstern zeigt den Nationalpark, der inzwischen dicht und endlos in völliger Dunkelheit vor mir liegt. Über 40 Grad heißes Wasser…Ruhe…Natur…glühende Außenbecken, die wie riesige mittelalterliche Waschzuber aussehen und in die nur eine Person passt – Entspannung pur. Nach dem Bad spüle ich das Onsen-Wasser ab, obwohl Japaner darauf schwören, dass dessen Rückstände gut für die Haut sind. Überhaupt soll häufiges Baden im Onsen die Haut klären, reinigen und aufhellen, wie es dem japanischen Schönheitsideal entspricht. Dieser Onsen hält auch watteweiche weiße Handtücher für alle Badenden kostenlos bereit, mein eigenes Handtuch wird überflüssig (auch in weniger luxuriösen Bädern kann man stets Handtücher für ein kleines Entgelt leihen – vorausgesetzt man kann den japanischen Handtuchautomat bedienen…).

 

Der Weg zurück

Aufgewärmt, entspannt und zufrieden stehe ich vor dem Badehaus und will den Rückweg nach Tokyo antreten. Es ist später Abend und die elektrische Beleuchtung im Nationalpark schimmert nur schwach. Ich stelle fest, dass kein Bus mehr fährt, dass ich festsitze da oben auf dem schwarzen Berg. Nach einer Weile kommt ein Passant vorbei. In chaotisch aufgeregtem Japanisch erkläre ich, wo ich hin will, er liest den Fahrplan und erklärt mir, was ich schon geahnt habe, dass nichts mehr fährt. Auf die Hilfsbereitschaft von Japanern ist wie immer Verlass. Er lässt es sich nicht nehmen mit mir eine Landstraße Richtung Tal abzuwandern bis wir zwei junge Japanerinnen treffen, die auch im Onsen waren und auf dem Weg zu einer entlegenen Zugstation sind. Er vertraut mich ihnen an, ich bedanke mich mehrfach und stakse dann querfeldein hinter meinen Retterinnen einen Hang hinunter. Gemeinsame Zugfahrt zurück ins Großstadtgetümmel. In Tokyo angekommen bestehen die beiden darauf, mich zu der Bahn zu bringen, die mich direkt nach Hause fährt, obwohl ich längst weiß, wo ich bin. Aus dem Zugfenster sehe ich, wie sie mir hinterher winken, bis ich aus ihrem Blickfeld verschwunden bin.

Vielfältige Badewelt

Während meines Semesters in Japan und meiner anschließenden Reise durch das Land habe ich noch die verschiedensten Onsens getestet: In Tokyo, Kusatsu, Hiroshima und Beppu. Ich habe gelernt, dass nicht nur kaltes, sondern auch fast kochend heißes Wasser Gänsehaut verursacht, dass manche Onsens kleine Becken haben, durch die starke Elektroschocks fließen und dass diese selbst bei leichtsinnig-unwissendem Betreten nicht lähmend wirken – das war meine Assoziation, gleich nach der ersten Eingebung nun zu ertrinken. Ich habe festgestellt, dass die Grenzen von öffentlichem Bad und Onsen verwischen können und mitunter auch Waschmaschinen in den Umkleidekabinen  zu finden sind. Verirrt im Gassengewirr auf dem Weg zu einem Bad, von einer Japanerin gefunden, in einem Onsen abgeliefert und dann zu höflich um abzuhauen, musste ich ebenso Notiz davon nehmen, dass auch dubiose Rotlichtviertel Onsens haben, in die das entsprechende Klientel zum Duschen, Baden und Waschen geht. Ausgerechnet dort saßen Männer und Frauen verbunden durch einen Tunnelkanal im gleichen warmen und wie immer ungechlorten Wasser.

Aber ich habe mich auch im Baumwoll-Kimono in heißen Sand eingebuddelt, auf der Natur nachempfundene Miniaturwasserfälle geblickt, im Winter in dampfenden Außenbecken gesessen und Felsen bewundert, bin durch Barfußpfade gewandert und habe einen hoteleigenen Onsen ganz für mich alleine gehabt. Das Erlebnis war – bis auf den ungewollten Ausflug ins Rotlichtmilieu – durch die  andächtig ruhige Atmosphäre und das über 40 Grad heiße Wasser aus den steinigen Tiefen der Insel immer unglaublich entspannend und stellt jede deutsche Therme in den Schatten. Affen habe ich allerdings nie im Onsen getroffen. Ein Grund mehr erneut in dieses vielseitige und wunderschöne Land zu reisen…

(Universitäts-Aufenthalt in Japan, Herbst-Winter 2007, anschließende Individualreise durch das Land, Bericht unveröffentlicht)