16:30 Uhr. Grenze Lettland – Russland.
Pytalovo. Die Beamten treffen im Zug auf eine gut gelaunte von Sonnenstrahlen verwöhnte Gruppe von leicht übermüdeten, jedoch unbeschwerten Österreichern vor.
„Documenta!“ schreit ein ernster Beamter in diese Idylle. Er schaut auf das Visa und bekommt einen Lachanfall. Was soll das sein? Wir erkennen bald, dass wir in einer äußerst prekären Lage sind. Die Beamten in Weißrussland haben das falsche Stück Papier vom Visum abgerissen. Wir haben kein Ausreisevisum von Russland mehr. Wir dürfen schließlich mit der Auflage nach Russland einreisen, dass wir in St. Petersburg sofort zum österreichischen Konsulat gehen, um Ausreisevisa zu beantragen (die natürlich etwas kosten). Wir sind froh, dass wir so kurz vor dem Ziel nicht zurückgeschickt wurden.
 
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Ich mache einen Zugausflug durch die Waggons und mir wird der Unterschied zu den anderen inzwischen angehängten Waggons bewusst. Das Bild hat sich seit der Grenze wieder verändert. Ärmlicher gekleidete Leute sitzen dichtest gedrängt auf ihren Plätzen und essen aus ihrem mitgebrachten Steingutgeschirr, lesen oder schlafen. Mir wird klar, dass wir im Vergleich dazu in einer Luxuskarosse sitzen. Die Leute, die unsere Ausstellung im Waggon besucht haben, waren in allen Ländern freundlich. Nur manche schüttelten ungläubig den Kopf. Unbehagen macht sich bei mir breit. Diese Leute haben weiß Gott andere Probleme als verzierte Holzschächtelchen zu betrachten, die sie vielleicht lieber ihrem Heizmaterial hinzugefügt hätten, um strenge Wintertage zu überstehen. Provozieren wir mit unserem Waggon Menschen, die um ihr tägliches Brot kämpfen? Wir sind nur Wenige im Waggon, die eine Reise in die Vergangenheit und die Sonnenstrahlen der fremden Länder durch die Scheibe genossen haben. Im Nachbarwaggon zeigt sich der raue Alltag der Menschen, die wir aus der Ferne arbeitend auf ihren Feldern betrachtet haben, an der vom Wetter gegerbten Haut und an den Schwielen auf den Händen. Trotzdem schenken uns viele ein freundliches Lächeln, wenn wir uns durch einen ihrer Waggons drängen. Sind Armut und Kunst zu vereinbaren oder bedarf es zunächst einen vollen Magen, um Kunst genießen zu können? Ist die Landschaft, die wir unterwegs gesehen haben, auch jene, die die Leute hier sehen? Treffen verschiedene Wirklichkeiten aufeinander? Was wissen sie von unserem Land und von unserem Leben, von unserem Umgang mit der Natur?... Es drängen sich mehr Fragen als Antworten auf.