Montag, der 21.07. begrüßt uns mit strahlendem Sonnenschein. Wir laden unsere Koffer in den Bus, kämpfen nochmal am Frühstücksbüffet und fahren dann Richtung Iwangorod/Narav zur russisch-estnischen Grenze. Tatjana begleitet uns bis dorthin. Die Trabantenstädte aus Plattenbauten sehen in unseren Augen häßlich aus, aber anscheinend mögen die Leute diese Wohnungen, vermutlich haben sie auch gar keine Wahl. Es gibt viele Grünanlagen, in denen die Leute mit ihren Hunden spazieren gehen. Es gibt auffallend viele “scharfe” Hunde hier wie Dobermann, Rottweiler, Schäferhunde, aber auch Kampfhunde. Man sieht jedoch auch kleine Hunde. Sobald wir die Stadt hinter uns haben, wird die Strasse immer schlechter und holpriger, da wird das Kaffeetrinken im Bus schwierig. Überall tauchen jetzt Felder mit Kohl und Kartoffeln oder roten Beeten auf. Am Straßenrand blüht der Storchschnabel und viel Blutweiderich. Die Wiesen und Äcker sind schön grün. Mir fällt auf, daß es hier noch viele Kletten gibt, wie ich sie aus meiner Kindheit kenne. Bei uns sind Klettensträucher äusserst selten geworden. Auch riesige Ansammlungen von hohem Bärenklau säumen auf Kilometer die Straße. Die Landschaft ist flach und Wiesen voller Scharfgarbe und Margaritten wechseln sich ab mit Wäldern und kleinen Orten, in denen überwiegend die traditionellen Holzhäuser stehen, von denen viele halbverfallen und verlassen sind.

 

Kurz vor der Grenze machen wir den letzten “Boxenstop” und Tatjana erzählt uns zum Abschied einen typisch russischen Witz: Ein überladenes russisches Flugzeug droht abzustürzen, daher wird alles unnötige Gewicht über Bord geworfen. Die Maschine sinkt aber weiter, und im Sinkflug steht der Deutsche auf, trinkt ein Bier und sagt: “Es lebe Deutschland” und springt aus dem Flugzeug. Dann steht ein Franzose auf, trinkt ein Glas Rotwein und sagt: “Es lebe Frankreich” und springt raus. Dann steht ein Russe auf, trinkt einen Wodka und sagt: “Es lebe Afrika” und wirft einen Afrikaner raus...!

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An der russischen Grenze müssen wir mit langer Wartezeit rechnen. Aus reiner Schikane werden die Busse bis zu 12 Stunden einfach stehen gelassen, es sei denn, man zahlt entsprechendes Schmiergeld. Es kann sogar sein, daß wir alle Koffer auspacken und vorführen müssen. So stehen wir also direkt am Grenzfluß, der Narva. Die gleichnamige Stadt hat 76.000 Einwohner, wovon 95 % Russen sind. Draußen sind es 26 im Schatten, aber wir müssen den Bus und damit die Klimaanlage abstellen und schmoren still vor uns hin und schimpfen mehr oder weniger über diese Schikane. Dann sehen wir, daß die Reisenden des vor uns wartenden Busses alle ihre Koffer eigenhändig ins Zollgebäude tragen müssen. Nach einer halben Stunde kommen sie mit dem Gepäck wieder heraus und laden alles ein. Mittlerweile kommt ein Linienbus, der vorgelassen wird, aber auch da müssen alle einzeln antanzen. Brigitte verteilt inzwischen “Drachenfutter”, also Bonbons, was unsere Stimmung kurzfristig aufhellt. Nach zwei Stunden werden wir langsam mürbe im Bus, in dem die Luft zum Schneiden dick ist. Aussteigen und draussen rumlaufen dürfen wir natürlich auch nicht. Plötzlich tut sich was, wir müssen alle aussteigen und mit unserem Gepäck und den Pässen ins Zollgebäude. Jeder einzelne wird angeschaut, dann bekommen wir unseren Stempel. Erst als auch der letzte seinen Stempel hat, wird die Tür aufgeschlossen, so daß wir wieder raus und einladen können. Danach dürfen wir aber weiterfahren und überqueren die Narva, sehen die beiden großen Festungen an beiden Ufern und befinden uns dann vor dem estnischen Zoll, wo wir zwar anstatt der kyrillischen Schrift wieder die vertrauten Buchstaben vorfinden, aber trotzdem nichts verstehen, denn estnisch ist dem finnischen verwandt und damit für uns absolut unverständlich. Brigitte hatte unsere Pässe eingesammelt, immer schön das Konterfei nach oben, und wir hoffen, daß wir über diesen Zoll etwas schneller kommen. Diese Warterei an den Grenzen ist immer nervend, zeitraubend und einfach unsinnig. Das trägt nicht gerade zu einer besseren Völkerverständigung bei, aber das ist ja auch nicht der Sinn der Sache. Aber nach einer knappen Stunde haben wir auch diese Hürde genommen und freuen uns auf frische Luft, neue Eindrücke und was zu essen. Zuerst stellen wir aber die Uhr wieder eine Stunde zurück, denn nun fahren wir ja wieder nach Westen. Draußen sind es 28, aber in Überlingen anscheind sogar 37, wie Brigitte telefonisch erfahren hat. Was ist das bloß für ein Sommer?!

 

Wir fahren nun durch Estlands herrliche Wiesenlandschaften voller Glockenblumen. Hier sehen wir auch die ersten Störche. Estland ist etwas größer als die Schweiz und ist von den drei baltischen Staaten am dünnsten besiedelt, denn es hat nur 1,5 Mio Einwohner. Viele Landstriche sind verseucht durch Ölschieferabbau, bei dem viele Giftstoffe freigesetzt werden. Wir machen trotzdem Mittagspause und stürzen uns hungrig auf Wienerle oder Suppe im Freien. Ich komme mir manchmal vor wie bei Rotel, und diese Momente der “Erdverbundenheit” gefallen mir sehr. Der anschliessende Kaffee mit Kuchen baut einen so richtig auf, und wir nehmen die restlichen 163 km bis Tallinn gern noch auf uns. Der Himmel bewölkt sich duster und drohend, und kaum sind wir wieder auf der Piste, regnet es wie aus Kübeln. Was hatten wir doch wieder für ein Glück! Es ist der erste Regen dieser Reise überhaupt. Die leuchtendgelben Rapsfelder brauchen den Regen. Im Hintergrund rechterhand sehen wir die Ostsee. Hier ist weites, plattes Land soweit das Auge reicht. Über den Himmel zucken Blitze. Nach einer Weile ist das Gewitter vorbei, es wird wieder hell, aber die Temperatur ist schlagartig auf 18 gefallen. Wir legen einen Stop bei einem wieder hergerichteten Gutshof ein, wo es außer einer urigen Schenke auch noch einen sehr schönen Verkaufsladen mit geschmackvollen Sachen gibt wie schöne handgestrickte Pullover und Holzschnitzereien. Unsere Fahrt setzen wir nun auf ungewohnt ebener Straße, nämlich einer Autobahn, fort, die kaum Schlaglöcher aufweist. Rechts von uns liegt der Lahemaa-Nationalpark, der zu einem großen Teil noch zu Russland gehört. Hier leben Elche und Bären, Luchse und Nerze und über 200 Vogelarten. Hochmoore und Wälder wechseln sich mit Steppenlandschaft ab. Bei Maardu gibt es viele Chemiewerke und Phosphatabbau. Durch massive Umweltsünden ist hier der Boden total verseucht, was aber in Zukunft verringert werden soll.